Genussvolle Landgeschichte(n): Was ein französischer König in Lanzenkirchen zu suchen hat
Auf den zweiten Blick: Der Graf von Chambord in Lanzenkirchen
Folke Tegetthoff erzählt, wie der letzte französische König seinen Weg nach Lanzenkirchen fand.
Was ein französischer König in Lanzenkirchen zu suchen hat
Jede Geschichte, wirklich JEDE, trägt nicht nur wie ein Kostüm, wie eine Maske die eine in sich, sondern noch viele andere, verborgene, nie ans Tageslicht gekommene Geschichten. Aber weil wir ja mit dem fabelhaften Zauberstab, dem „Genussvollen Blick“, beglückt sind, der mühelos durch diese Hüllen hindurchzusehen imstande ist, werden wir hier und jetzt das Rätsel des Mannes lösen, der um Haaresbreite Heinrich der V. von Frankreich geworden wäre …
Widmen wir uns zuerst dem Äußeren, den Kostümen. Prachtvoll sind sie, wie es sich für den französischen Hof geziemt. Schloss Frohsdorf passt perfekt in dieses Spiel; es ist natürlich nicht Versailles, dafür bietet es aber Sicherheit vor den Republikanern, die der königlichen Familie an den Hals wollen. Feste, höfisches Leben, französisches Parlieren und Savoir-vivre – mitten in der Buckligen Welt! Durch die feinen Nachbarn geadelt sind mit einem Mal auch die Bürger und Bauern, die „von Lanzenkirchen“.
Jetzt aber schwingen wir unseren Zauberstab und bekommen ein allerliebstes Geschichtchen, wie alles begann …
An einem Tag im März 1851 war eine Kutsche, eine ganz gewöhnliche, vor dem Schloss vorgefahren und ihr eine in eine Kutte gehüllte Gestalt entstiegen. Es war der Graf von Chambord, der inkognito durch halb Europa hetzte, um eine Bleibe für sich und seine Frau zu suchen – wäre es nach Gottes Gnaden gegangen, wäre er der letzte König Frankreichs gewesen. Lanzenkirchen war als Labe-, als Übernachtungsstation auf dem Plan gestanden – in der Mitte zwischen dem herrschaftlichen Graz und dem kaiserlichen Wien gelegen.
Die Gastgeberin, seine Tante Marie Thérèse Charlotte de Bourbon, Herzogin von Angoulême, hatte für den Besuch ein hochherrschaftliches 24-gängiges Abendessen vorbereiten lassen – typisch Franzosen! Doch – welche Fügung – wenige Stunden vor dem Dinner wurde der gesamte Speisentraum durch einen kleinen Küchenbrand, an sich kaum erwähnenswert, dahingerafft. Da meldete sich inmitten allergrößter Verzweiflung und Hektik Hans, einer der Bediensteten, und meinte keck, er sei imstande, ein Essen zu liefern, das dem Gast – es wusste ja keiner, wer da an der Tafel Platz nehmen würde – wohl und sicher schmecken werde.
Was blieb der armen Herrschaft übrig als zuzustimmen: „Bringe er, was er bekommen und tragen kann! Aber wage er nicht, uns zu enttäuschen!“
Hans jagte los, durch die gesamte Bucklige Welt, von einem Bauern zum nächsten, und sammelte das Köstlichste von Stall und Feld zusammen.
Als am Abend beim Dinner der hohe Gast vom Schinken und vom duftenden Brot, vom Gemüse und vom Most, vom Käse von Schafen und Ziegen, von der duftenden Milch und den in Kräutern eingelegten Pilzen gekostet hatte, war Graf Henri – möglicherweise, vielleicht, wer weiß, dereinst Heinrich der Fünfte, König von Frankreich – so gerührt ob der Schlichtheit des Mahles und so verzückt ob der Köstlichkeiten, dass der fromme Mann diesen außergewöhnlichen Abend und dieses außergewöhnliche Mahl als einen Fingerzeig direkt vom Himmel sah …
Wenige Wochen nach diesem Abend, von dem niemand, weder die hochadeligen Gastgeber noch irgendjemand in Lanzenkirchen und schon gar nicht Hans, ahnte, welche Bedeutung er für eines jeden Leben haben würde, fuhr eine Kolonne prunkvoller Kutschen durch die Allee auf Schloss Frohsdorf zu. Ihnen entstiegen nicht nur der Graf von Chambord, seine Gattin Maria Theresia von Österreich-Este und weitere 17 Mitglieder des französischen Hofes, sondern auch eine blühende Zukunft für Lanzenkirchen. Im Gepäck sollten sie Schulen für Mädchen und Buben, Dämme entlang der Leitha für die Bauern, Pensionen für alle, Pflege für Kranke und eine Apotheke haben. In weiteren Kisten warteten bereits ungeduldig alle Ingredienzien, um Schloss Frohsdorf und das kleine, unbedeutende Lanzenkirchen zu einem gesellschaftlichen, geistigen und künstlerischen Zentrum des Landes zu machen.
Hans wurde der persönliche Berater der königlichen Familie in allen Fragen gesunder Genüsse. Übrigens: Hans’ Nachfahren leben heute noch an diesem Ort – vielleicht hast DU das Glück, einem von ihnen zu begegnen …