Genussvolle Landgeschichte(n): Wie die Zinnfiguren nach Katzelsdorf kamen
Auf den zweiten Blick: Zinnfigurenmuseum Katzelsdorf
Folke Tegetthoff erzählt, wie Katzelsdorf zu einem der größten Standorte für Zinnfiguren wurde.
Ist es nicht eine wahre Freude für die Augen, hier in Katzelsdorf ein Volk von 40.913 Figuren zu sehen? Die Menschen staunen über Soldaten und Tierchen, Handwerker und Tänzerinnen, Ritter und Bauern, die, in Zinn gegossen, ihre Rollen spielen: ZINNFIGUREN – seit über 800 Jahren sind sie stumme Zeugen für die Sehnsucht des Menschen nach Spiel und Geschichte(n).
Und weil wir mit dem „Genussvollen Blick“ unterwegs sind, jenem, der uns zu den unglaublichsten Geschichten führt, entdecken wir inmitten dieser gigantischen, kaum überschaubaren Menge diese eine Figur, die dafür verantwortlich ist, dass DU heute hier bist, ja, dass es diesen großartigen Ort überhaupt gibt.
Es ist ein kleines, unscheinbares Figürchen, niemand würde ahnen, welch wahrlich märchenhafte Geschichte es in sich trägt.
„800 Jahre ist es her“, erzählt es leise und bescheiden, „dass ich hierher kam. Der Ulrich von Liechtenstein hatte mich in seinem Wams direkt an seinem Herzen getragen. Ich war eine Erinnerung an eine Pilgerreise gewesen. 1227 brachte ihn ein Turnier von seinem Stammschloss im Steirischen nach Cazelinisdorf, wie Katzelsdorf damals hieß. Das Schicksal musste ihn wohl hergeführt haben, denn während der Ritterspiele verliebte er sich unsterblich in ein Mädchen aus dem Dorf. Doch weil es unstandesgemäß, nicht von Adel war, zog er allein wieder davon – mich ließ er zum Abschied in die Hände der Holden gleiten. Wie den größten Schatz hütete sie mich auf einem Kissen neben ihrem Strohsack. Sie betete, was das Zeug hielt, der edle Herr möge doch wieder kommen, möge sie nicht vergessen. Naja, und weil ich ja nicht irgendeine Figur, sondern eine hoch und heilig geweihte war, half ich ein bisschen nach ... Bald lag neben mir ein weiteres Ding aus Zinn, bald war das Kissen nicht mehr groß genug, um das wachsende Völkchen aus Figuren zu beherbergen: Denn jedes Mal, wenn der Minnesänger nach Cazelinisdorf kam, brachte er seiner Geliebten ein neues Stück meiner metallenen Verwandtschaft mit. Und er kehrte oft wieder: Natürlich, welcher Vater will nicht seine Kinderschar heranwachsen sehen …
Viele Stunden verbrachte er mit uns, um mit unserer Hilfe seiner inzwischen ansehnlich gewachsenen Familie von der großen Welt dort draußen zu erzählen. Er stellte die Soldaten in ihren bunten Uniformen auf und ließ sie von kriegerischen Auseinandersetzungen berichten. In einer Ecke waren die Bauern, die von neuen, fremden Früchten erzählten. Mit tiefer Stimme hauchte er Männern und mit hoher Stimme Frauen Leben ein, um die Kinder, die mit offenen Mündern lauschten, zu ordentlichen Christen zu erziehen.
So ging das viele Jahre voller Glück. Ein großes Volk waren wir geworden, und es kam uns vor, als würden wir ein eigenes kleines Land im Haus der Mutter der Kinder des Ulrich von Liechtenstein regieren.
Während für uns die Zeit nicht zu existieren schien, raste sie für die Menschen nur so dahin: Wie in einem Spiel wurden Grenzen und Länder, Herrscher und Volk durcheinandergewürfelt. Wie viele tausend Hände stellten uns mit großen und mit kleinen Fingern in Reih und Glied. Wie änderten sich Worte und Gedanken, mit denen wir zum Leben erweckt wurden. Unsere Formen und unsere Kostüme blieben unverändert, nur der uns geschenkte Atem der Menschen tickte im Gleichschritt mit den Zeigern der Uhr.
Wie gütig muss das Leben es mit uns gemeint haben, dass wir heute, nach so vielen Jahrhunderten an Kommen und Gehen, nun das Paradies auf Erden erleben dürfen. Euch, denen der „Genussvolle Blick“ gegeben ist, will ich verraten, was natürlich nirgendwo geschrieben steht: Genau dort, wo einst das Haus der Mutter der Kinder des Ulrich von Liechtenstein gestanden hat, genau dort haben wir unser eigenes Reich gefunden! Und ich, der Allererste dieses zinnenen Volkes, niemand weiß es, niemand ahnt es, bin immer noch mitten unter ihnen …“